Tierversuche

An kaum einem anderen Thema, welches mit der Nutzung von Tieren im Zusammenhang steht, entzünden sich kontroversere Debatten, als am Thema Tierversuche. Dabei werden tierethisch motivierte Bedenken an Tierversuchen gerne mit dem Verweis auf den medizinischen Nutzen von Tierversuchen für den Menschen bei Seite geschoben. Unabhängig davon, dass sich hier innerhalb der Debatten ein grundlegender Speziesismus, also eine Höherstellung der Interessen von Menschen gegenüber den Interessen anderen Tiere, manifestiert, ist es gar nicht notwendig, Tierversuche mit Überlegungen der Tierethik zu kritisieren. Um aufzuzeigen, dass die Methode Tierversuch eine unzulängliche wissenschaftliche Forschungspraxis darstellt, genügen, besser noch als die Mittel der Ethik[1] die Mittel der Wissenschaft selbst. Im Folgenden soll also nicht ethisch, sondern wissenschaftstheoretisch argumentiert werden.

In den Biowissenschaften besteht, nicht anders als in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, ein enormer Publikationsdruck. Das heißt, Forscher_innen müssen, um erfolgreich zu sein und Forschungsgelder einwerben zu können, möglichst viele Aufsätze in wissenschaftlichen Journals veröffentlichen. Um dies zu tun, benötigen sie Daten, welche sich publizieren lassen. Schneller als durch Studien am Menschen lassen sich durch Tierversuche Forschungsergebnisse erzielen, was sich unter anderem daraus begründet, dass Mäusegenerationen – Mäuse sind das häufigste „Versuchsobjekt“ vor Fischen, Ratten und anderen Tierarten – viel kürzer sind als Menschengenerationen. Weil Quantität mehr zählt als Qualität, welche sich etwa durch eine aufwendige klinische Studie an Menschen erzielen ließe, werden nicht nur massiv falsche beziehungsweise gefälschte Daten publiziert.[2] Die publizierten Ergebnisse werden auch kaum im Kontext anderer Forschungsarbeiten zitiert.[3] Die Zitationshäufigkeit wissenschaftlicher Studien kann als Maßstab für deren wissenschaftliche Relevanz betrachtet werden. Die Zitationshäufigkeit von durchschnittlichen Tierversuchsstudien ist jedoch so niedrig, dass die tierexperimentelle Forschung quasi bedeutungslos ist – auch in Bezug auf die Entwicklung von Therapieansätzen für den Menschen.[4] Trotz der wissenschaftlichen und medizinischen Bedeutungslosigkeit des Großteils aller Tierversuche werden diese mit gigantischen Geldsummen gefördert. Wissenschaftler haben geschätzt, wie hoch die Kosten allein nur für biomedizinische Studien sind, welche sich als offensichtlich fehlerhaft und damit wertlos für die Medizin erweisen – und kommen dabei auf mehrere zehn Milliarden Dollar, welche jährlich in der Biomedizin verschwendet werden.[5]

Ein weiterer Aspekt ist, dass in der Regel nur solche Experimente überhaupt in Publikationen münden, welche ein positives Ergebnis haben. Alle anderen Ergebnisse, welche nicht gewollt sind, werden „unter den Tisch gekehrt“.[6] In den wissenschaftlichen Journals erscheint also nur ein bestimmter Prozentsatz der insgesamt erzielten Forschungsergebnisse – nämlich nur die gewollten beziehungsweise erwünschten. In diesem Zusammenhang kann auch erwähnt werden, dass Replikationsstudien in der Biomedizin häufig scheitern – sich also die Ergebnisse aus einer Versuchsreihe nicht wiederholen lassen.[7] Das Bestehen von Replikationsstudien ist ein ganz wesentliches Erfordernis einer guten wissenschaftlichen Praxis. Tatsächlich ist das Geschehen in der Tierversuchsforschung jedoch hochgradig zufallsgesteuert.[8] Dies fängt bereits beim normalen „Handling“ der „Versuchstiere“ an. Allein das einfache Hochheben einer Maus – eine alltägliche Routinehandlung in Tierversuchslaboren – verursacht enormen Stress bei den Tieren.[9] In der Folge verändern sich Puls und Blutdruck, Stresshormone gelangen ins Blut usw. Die Frage ist dann, wie zuverlässig beziehungsweise replizierbar Ergebnisse aus Tierversuchen unter diesen Umständen sein können.

Ein weiterer, daran anschließender Themenbereich ist die Frage nach der Übertragung von Ergebnissen aus Tierversuchsstudien auf den Menschen. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kann man, wie Kritiker_innen von Tierversuchen häufig behaupten, nicht davon ausgehen, dass es keine Übertragbarkeit von Ergebnissen gibt. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus tierexperimenteller Forschung ein neues Medikament oder eine neue Therapiemethode für den Menschen entsteht, ist zwar gegeben – aber, und dies muss betont werden, extrem gering.[10] Man kann sogar feststellen, dass Wirkstoffe alleine bereits bei verschiedenen Tieren derselben Art auf unterschiedliche Weise wirken.[11] Letztlich kann man nicht sagen, dass Erkenntnisse aus Tierversuchen grundsätzlich nicht auf den Menschen übertragbar sind. Aber es scheint doch so zu sein, dass es nur eine sehr geringe, zufällig gegebene Übertragbarkeit gibt. Und eine Forschung, deren Methodologie Zufälle umfasst, ist keine gute Forschung. So wird sogar im Handbook of Laboratory Animal Science gefolgert: „It is impossible to give reliable general rules for the validity of extrapolation from one species to another.“[12]

Ferner wird immer wieder angeführt, Tierversuche wären notwendig für den medizinischen Fortschritt beziehungsweise hätten diesen erst begründet. Faktisch lässt sich jedoch zeigen, dass wichtige Erkenntnisse in der Medizin nicht durch Tierversuche, sondern durch epidemiologische Studien beziehungsweise die Beobachtung und Untersuchung von Menschen und durch die Autopsie von Verstorbenen gemacht wurden.[13] Eine Variation des „Fortschritts-Arguments“ lautet, dass für den Menschen wichtige Medikamente im Tierversuch entwickelt und getestet wurden. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass es oftmals passiert, dass ein Medikament (oder eine Vorstufe von einem Medikament) im Tierversuch scheitert und daher beim Menschen gar nicht zur Anwendung kommt – obwohl es evtl. in der gewünschten Weise wirken würde. Tierversuche verursachen so, dass neue Medikamente unter Umständen gerade nicht entdeckt werden. Auch lässt sich einwenden, dass die derzeit sich auf dem Markt befindlichen Medikamente beziehungsweise deren Nebenwirkungen die viert- bis sechshäufigste Todesursache beim Menschen darstellen, was die Rede vom medizinischen „Fortschritt“ in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt.[14] Auch beruft man sich gerne auf die gesteigerte Lebenserwartung der Menschen. Die moderne Medizin hat diese tatsächlich steigern können. Dabei wird jedoch verschwiegen, dass die „funktionalen Jahre“, also die Jahre, in denen die Menschen grundlegende körperliche Aktivitäten ausleben können, immer weniger werden.[15] Alles in allem hat das Paradigma der Tierversuchsforschung die moderne Medizin so auf einen „Holzweg“ gelenkt. Freilich sind durch Tierversuchsreihen auch Medikamente entwickelt worden, welche einen positiven Effekt haben. Die Frage ist aber, wo die heutige Medizin sein könnte, wenn nicht Tierversuche seit zig Jahrzehnten das bestimmende Forschungsparadigma bilden würden und wenn die Milliarden an Forschungsgeldern, welche in die Tierversuchsforschung geflossen sind, in tierversuchsfreie Forschungsprojekte geflossen wären. Tierversuchsfreie Forschungsmethoden sind im Übrigen deutlich billiger als Tierversuche, schließlich spart man das Geld für die Tierzucht, die Tierhaltung und Tierpflege. So können mit dem gleichen Geld viel umfangreichere Forschungsvorhaben finanziert werden, als dies mit Tierversuchsforschung möglich ist.

In der Tierversuchsforschung werden systematisch Tierleben vernichtet. Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive ist diese Art der Forschung nicht zu halten.[16] Sie versucht, sich zu legitimieren, indem sie sich auf den Nutzen der Forschung für den Menschen beruft. Doch, wie erläutert, fallen diese Argumentationsmuster bei genauerer Betrachtung in sich zusammen. Und so bleibt am Ende eben doch nur die Feststellung, dass Millionen und Abermillionen von Tieren systematisch dazu verdammt werden, ein Leben voller Leiden und Qualen in Tierversuchslaboren verbringen zu müssen. Und hier gebietet uns – neben allen Diskussionen um Methoden und Paradigmen der Forschung – eben doch wieder die Ethik, uns entschieden gegen die allermeisten Tierversuche auszusprechen. Schließlich bedeutet dies nicht nur, sich gegen Tierleid auszusprechen, sondern auch, sich für einen echten Fortschritt in der Medizin zu positionieren, sodass auch krankheitsbedingte Leiden von Menschen erfolgreicher gemindert werden können.

 

Quellenangaben:

[1] Alzmann, Norbert (2010): Zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen. Dissertation. Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen.

[2] http://www.zeit.de/2014/31/betrug-wissenschaft-daten-manipulation/komplettansicht

[3] Dagg, Anne Innis; Seidle, Troy K. (2004): Levels of citation of nonhuman animal studies conducted at a Canadian research hospital. In: Journal of Applied Animal Welfare Science 7 (3), S. 205–213.

[4] Lindl, Toni; Völkl, Manfred; Kolar, Roman (2005): Tierversuche in der biomedizinischen Forschung. In: Altex 22 (3), S. 143–151.

[5] Chalmers, Iain; Glasziou, Paul (2009): Avoidable waste in the production and reporting of research evidence. In: The Lancet 374 (9683), S. 86–89.

[6] Holman, Constance; Piper, Sophie K.; Grittner, Ulrike; Diamantaras, Andreas Antonios; Kimmelman, Jonathan; Siegerink, Bob; Dirnagl, Ulrich (2016): Where Have All the Rodents Gone? The Effects of Attrition in Experimental Research on Cancer and Stroke. In: PLoS Biology 14 (1), S. 1–12.

[7] Begley, C. Glenn; Ioannidis, John P. A. (2015): Reproducibility in science: improving the standard for basic and preclinical research. In: Circulation research 116 (1), S. 116–126. / Iqbal, Shareen A.; Wallach, Joshua D.; Khoury, Muin J.; Schully, Sheri D.; Ioannidis, John P. (2016): Reproducible Research Practices and Transparency across the Biomedical Literature. In: PLoS Biology 14 (1), S. 1–13.

[8] Knorr Cetina, Karin (2002): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt a.M: Suhrkamp. S. 130 f.

[9] Balcombe, Jonathan P.; Barnard, Neal D.; Sandusky, Chad (2004): Laboratory routines cause animal stress. In: Journal of the American Association for Laboratory Animal Science 43 (6), S. 42–51.

[10] Greek, Ray C.; Greek, Jean Swingle (2002): Specious Science. How Genetics and Evolution Reveal Why Medical Research on Animals Harms Humans. New York: Continuum. / Greek, Ray; Menache, Andre (2013): Systematic reviews of animal models: methodology versus epistemology. In: International Journal of Medical Sciences 10 (3), S. 206–221. / Lindl, Toni; Weichenmeier, Ingrid; Labahn, Dirk; Gruber, Franz P.; Völkel, Manfred (2001): Evaluation von beantragten und genehmigten tierexperimentellen Versuchsvorhaben in Bezug auf das Forschungsziel, den wissenschaftlichen Nutzen und die medizinische Relevanz. In: Altex 18 (3), S. 171–178.

[11] Shanks, Niall; Greek, Ray; Greek, Jean (2009): Are animal models predictive for humans? In: Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 4 (1), S. 1–20.

[12] Salén, Jörn C. W. (1994): Animal Models. Principles and Problems. In: Per Svendsen und Jann Hau (Hg.): Handbook of Laboratory Animal Science. Animal Models. Boca Raton: CRC Press, S. 9.

[13] Reines, Brandon P. (1991): On the locus of medical discovery. In: Journal of Medicine and Philosophy 16 (2), S. 183–209. / Matthews, Robert A. J. (2008): Medical progress depends on animal models - doesn't it? In: Journal of the Royal Society of Medicine 101 (2), S. 95–98.

[14] Lazarou, Jason; Pomeranz, Bruce H.; Corey, Paul N. (1998): Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients: a meta-analysis of prospective studies. In: Jama 279 (15), S. 1200–1205.

[15] Greger, Michael; Stone, Gene (2015): How Not To Die. New York: Flatiron Books. S. 15 f.

[16] Man or mouse? Why drug research has taken the wrong turning (2017) (New Scientist). Online verfügbar unter https://www.newscientist.com/article/mg23230973-700-man-or-mouse/

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